Wir sind irgendwo im Wilden Westen, in einem kleinen Nest am Rande der Zivilisation namens Repentance Springs - Quell der Buße, frei übersetzt - sicherlich liegen Radiator Springs und Springfield gleich um die Ecke.
Die Colty-Bande, ein ebenso berüchtigter wie bunter Haufen Krimineller, hat die Bank überfallen und reitet mit der Beute gen Süden. Sollten sie jemals den Rio Grande überqueren, wären sie in Sicherheit und ausserhalb des Arms der US-Justiz. Oder sie erreichen den Zug um kurz nach Drei, dann wären sie weg für immer. Nur Colonel McReady kann mit einer Hand voll treuer Gesetzeshüter im Schlepptau die 16-köpfige Gang aufhalten. Eine Verfolgungsjagd auf Leben oder Tod beginnt.
Zwei Spieler sitzen sich gegenüber, zwischen sich die Reiseroute der Bande. Die Colty-Gang besteht aus 15 Personen und einem Hund. Mit Zähigkeitswerten von 0 bis 5. Der Colonel hingegen steht allein gegen das Verbrechen und erst im Spielverlauf scharen sich seine Getreuen um ihn. Der Spielverlauf ist asymmetrisch: Jede Runde bewegt der Colty-Spieler seinen Marker um eins weiter, zieht zwei Karten und spielt beliebig viele Feuerkraftkarten (vor allem Schusswaffen) aus. An jeden Schauplatz darf er maximal drei Karten anlegen. McReady zieht ebenfalls und spielt aus, darf dann aber noch einen Gangster abknallen. Das gelingt, wenn seine Feuerkraft die von Colty übertrifft. Dem hilft ein wenig das Terrain mit einem Defensivbonus - der Colonel muss sich also etwas mehr aus dem Fenster lehnen.
Der Grundmechanismus von Ziehen-Ausspielen ist einfach, aber was jeder mit seinen Karten veranstaltet, macht den Reiz aus: McReady muss einen ständigen Druck aufbauen, um die Gangster Mann für Mann auszuschalten, an strategisch wichtigen Punkten kann er Blockaden platzieren, was Coltys Optionen verringert. Der wiederum kann sich aggressiv zur Wehr setzen, Deputys und Kopfgeldjäger über den Haufen ballern und am Ende gar mit einer pritschen-montierten Gatling-Gun die Guten von jeglichen Angriffen abhalten und Gegendruck aufbauen. Er muss das Dezimieren seiner Mannschaft hinausziehen, manchmal Personen opfern und Gelegenheiten nutzen. Dazu wechselt Revolver immer wieder das Tempo: Aufbau- und Vorbereitungsphasen wechseln sich mit heftigen, an Schießereien erinnernde, Kartenduellen ab. An jedem Schauplatz sind wir unterschiedlich lange. Der Canyon wird schnell durchquert, Karten angespart, um dann am Buzzard Point und schließlich im Rattlesnake Creek in fast schon filmreifen Showdowns und immer ganz knappen Kisten zu enden. Und damit meine ich jetzt nur teilweise die vom Undertaker. Beide Spieler manövrieren sich stets in optimale Positionen, um einen Vorteil zu erringen. Die Entscheidungen sind schmerzhaft und sowohl taktisch als auch strategisch: Bewahre ich mir einen harten Konter bis zum Ende auf, um spielstarke Karten des Gegners sicher auszuschalten oder lege ich sie früh schon ab zugunsten flexiblerer Aktionskarten, die am Ende den Ausschlag geben könnten?
Meistens entscheidet sich das Spiel am 3:15-Zug. Bis dahin haben beide Seite die letzten Reserven mobilisiert und versuchen sich in Schach zu halten. Nur Colty muss am Ende den Schauplatz lebend verlassen, dann hat er gewonnen. Sollte ihn sein Gegenüber zu sehr in Schach halten, kann er sogar die Notbremse ziehen und den Zug sprengen (hier euphemistisch „Der Zug entgleist“ genannt). Dann werden alle Karten beider Seiten zerstört und Colty kann nur durch das Abwerfen von Handkarten sich und ein paar Komplizen retten. Ein explosiver Befreiungsschlag.
Die zweite Siegbedinung, das frühzeitige Erreichen der mexikanischen Grenze, ist bei uns eher selten vorgekommen. Dazu sind die passenden Karten einfach zu rar - wenn Colty sie allerdings früh zieht, kann sich hier ein interessanter Alternativplan eröffnen.
Die Spielanleitung nimmt uns mit in den Wilden Westen der beiden Widersacher. Auf zwei Seiten erklärt sie uns den Hintergrund des Spiels und zeigt, dass natürlich auch der strahlende Held Dreck am Stecken hat. Wie in einem guten Westen verwischen die Grenzen zwischen Gut und Böse. Allerdings sind die Regeln nicht wasserdicht und lassen Fragen offen: So widerspricht die Kartenerklärung von „Ach egal“ der Übersicht und klärt nicht zufriedenstellend, ob Ausspielkosten zu zahlen sind.
Aber unter uns Wildwestjungs und Cowgirls: White Goblin Games hat dem Spiel mit dieser Grafik echt keinen Gefallen getan. Die Spielkarten gehen ja noch. Aber ein Großteil der Gangster sieht aus, als hätte sich ein 14-jähriger nach dem Volkshochschulkurs „Photoshop für Win95“ hier mal austoben dürfen und seine Familienfotos zu Wildwest-Gaunern umgepinselt - inklusive prächtiger Oberweiten in Doppel-D. Schon arg pubertär.
Da kann ich dem Pegasus-Verlag beinahe verzeihen, dass sie aus diesen miesen Vorgaben auch nichts besseres herausholen konnten. Aber warum ein Cover aus der Perspektive eines Egoshooters? Will es uns sagen: „Du verlässt gerade mit gezückten Revolvern den Saloon, da triffst du Colty und seine Spießgesellen?“ …zu denen scheinbar auch Ned McReady gehört - oder warum steht der direkt dahinter? Und warum ist der Oberfiesling Colty hochgepixelt bis zur Beinah-Unschärfe? Liegt das am Burbon? Singt diese Mischung aus Conny Francis und Britney Spears ganz rechts gleich „Ich will nen Cowboys als Mann?“
Warum um alles in der Welt greift man da nicht mal zu was neuem, packt das Spiel ins Querformat mit Kinobalken oder arrangiert die Gesichter wie auf Plakaten großartiger Westernfilme dieser Welt - wenn das ganze Spiel schon so vor cineastischen Möglichkeiten und Anspielungen trieft? Wie die Untertitel eines 60er-Jahre-Posters am „Scala“ hätte da stehen können:
Ein Mark Chaplin Spiel
Ned McReady, Jack Colty, Micky Mason, „Kittens“ Mackenzie „Revolver“
Und dann die Namen: McReady klingt für mich nach einem neuen Mikrowellen-Burger einer beliebten Schnellimbisskette und Colty eher nach Kumpel von Nebenan als nach Gesetzesbrecher: „Ey, Colty, kommste nachher rüber auf ein Bier?“ „Ja gern, ich warte nur noch eben auf die Postkutsche.“
Aber da sehe ich großzügig drüber hinweg, wenn das Spiel gut ist: Revolver überzeugt mich nämlich ungeachtet dessen als hervorragendes Zweipersonenspiel, das sich einerseits asymmetrisch und extrem nervenaufreibend spielt, andererseits auch über intensive Tempowechsel, kluge Kombomöglichkeiten und nicht zuletzt ein filmreifes Erzählmoment verfügt. Selten bringt mich ein Spiel dazu, auf meinem Hintern hin- und herzurutschen, weil mir die Spannung Termiten in die Chaps steckt. Alles wird getragen von dem starken Thema, das zum Fabulieren verleitet. Ich kann wirklich jedem, der sich an ungewöhnlichen Zweierkartenspielen so erfreuen kann wie an einem guten Western nur den Griff zu diesem Spiel empfehlen.
Auch wenn hier getötet, erhängt, Leute in die Luft gejagt und ein ganzer Zug gesprengt wird. Aus diesem Stoff sind eben Westernstories gestrickt: Ein Schuss, ein Schrei, das war Karl May!